Gingo Biloba

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten
Wie’s den Wissenden erbaut.


Ist es ein lebendig Wesen?
Das sich in sich selbst getrennt,
Sind es zwey? die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt.
Solche Frage zu erwiedern,


Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern
Daß ich Eins und doppelt bin?

Ginkgo - Bote aus dem Erdmittelalter

Der Ginkgo ist die älteste noch lebende Samenpflanzgattung, die es auf der Erde gibt. Einzigartig ist er allein schon durch seine eigene Gattung: er wird zwischen den Laub- und Nadelbäumen einsortiert. Nahezu unverändert hat er die Eiszeit - welche dem Tertiär folgte - überlebt.

In Europa ist der Ginkgo seit 1730 zu finden, als er aus China über Holland unseren Kontinent erreichte. Goethe schrieb sein weltbekanntes Gedicht über ihn, im Jugendstil fand man die Blätter in Fassaden und auf Einrichtungsgegenständen (z.B. Lampen) und in New York stehen heute ganze Alleen.

Wie lange suchende Arme streckt der Ginkgo seine Arme in die Welt hinaus. Dieses atypische Wachstum - im Verhältnis zu den spitzen Kegeln der Nadelbäumen und den breiten Kronen der Laubbäumen -, die im Herbst goldgelb gefärbten Blätter und nicht zu vergessen seine besondere Blattform faszinieren und inspirieren Botaniker gleich wie bildende Künstler und Dichter, seit Jahrhunderten. Dass er in ganz Europa so verbreitet ist liegt an der Vorliebe für alles Exotische im ausgehenden Absolutismus.
Die typische zweilappige Form des Blattes hat diesem einzigartigen Baum in China den Namen "Entenfuß" ‚eingehandelt' und in Japan - wo er seit Jahrtausenden bekannt ist, stehen Exemplare, deren Alter auf mindestens 1200 Jahre geschätzt wird.


Dort gerade besitzt der Ginkgo biloba (lat.) den Götternamen: Silberaprikose und dient als Baum der Erkenntnis in kultischen Anlagen, Alleen oder heiligen Hainen.
Seine Zweihäusigkeit, also die Tatsache, dass es männliche und weibliche Bäume gibt, sowie die zweigespaltene Form des Blattes machten ihn zu einem Symbol des Yin und Yang, das als Prinzip der Polarisation den gesamten Kosmos durchdringt. Die weiblichen Ginkgo-Bäume tragen im Herbst aprikosenähnliche Früchte, deren Kerne geröstet als Delikatesse gelten. Weniger delikat ist der Geruch, den die am Boden liegenden, verfaulenden Früchte verströmen. Aus diesem Grunde empfiehlt sich im heimischen Garten die Pflanzung von männlichen Exemplaren.
Dass Pilze, Insekten und Bakterien ihm nichts oder nur sehr wenig anhaben können, war bekannt. Auch überlebende Exemplare von Blitzschlägen und Taifunen oder Feuerbrünsten kannte man, aber als nur 800 m neben dem Atombombenzentrum in Hiroshima ein Ginkgo Baum austrieb, erreichte seine naturwissenschaftliche, religiöse und kulturelle Bedeutung einen erneuten Höhepunkt. Diese Bestätigung einer ungeheuren Lebenskraft schlägt sich auch darin nieder, dass die fernöstliche und europäische Medizin Ginkgo-Extrakte als Heilmittel nutzt.

Ungebrochen und unergründlich ist die Faszination, die von diesem Baum ausgeht.
Ist es die Suche nach dem Ursprünglichen, der Quelle des Lebens, die Ahnung von unerforschlicher Weisheit, die unglaubliche Vitalität oder sein Auftreten der Individualität in Zweisamkeit, mit der uns der Ginkgo in Bann schlägt?

Frank M. von Berger/Albrecht Wengert